Zervikogener Schwindel ist noch immer stark umstritten und wird oft als Mythos bezeichnet. Fakt ist, dass viele Menschen an Schwindel leiden und deswegen ihren HausarztIn aufsuchen. Untersuchungen beim HNO Spezialisten, bildgebende Verfahren, EKGs und Bluttests geben aber nicht immer Aufschluss über seinen Ursprung. Zudem ist Schwindel oft nur ein Begleitsymptom einer Reihe von Beschwerden. Häufig klagen Patienten zusätzlich über Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, Ohrenrauschen, Übelkeit, oder allgemein Verspannungen im Schulter-/Nackenberiech. So leiden 40-80 Prozent aller Schleudertrauma Patienten auch an Schwindel.
Was bedeutet eigentlich zervikogener Schwindel? Die kurze Antwort ist, dass der Schwindel seinen Ursprung im Nacken hat. Nackenschmerzen sind oft ein Begleitsymptom und die Ursache die verspannte Muskulatur (1). Aber damit machen wir es uns zu einfach, denn nicht jeder Patient passt in dieses Schema, und einige Menschen haben möglicherweise sogar mehr als eine zugrundliegende Ursache. Warum er auftritt, ist noch nicht vollständig geklärt, aber häufig sind Patienten mit Schleudertrauma, entzündlichen und degenerativen Veränderungen in der Halswirbelsäule und Menschen mit Dysbalancen des Bewegungsapparates betroffen (2).
Der folgende Abschnitt beleuchtet 2 Hypothesen, die nach momentaner Forschungslage eine Erklärung für den zervikalen Schwindel geben könnten:
Vaskuläre Hypothese:
Die eingeschränkte Blutversorgung des Gehirns , wobei die Vertebralarterien betroffen sind, kann immer wieder zu Schwindelattacken führen. Die Vertibralarterien laufen seitlich der Wirbelsäule in den Foramina transversalia Richtung Kopf und versorgen große Teile des Gehirns, des Rückenmarks und der tiefen Nackenmuskulatur mit Sauerstoff. Mit einem Durchmesser von 3-5mm gehören die Vertrebralarterien zu den größeren Blutgefäße. Der Schwindel tritt hauptsächlich bei Bewegung, wie Rotation und das Überstrecken des Kopfes auf. Die sogenannte vertebrobasilare Insuffizienz ist relativ selten, aber Schwindel ist eine häufige Begleiterscheinung. Bei einer chiropraktischen Behandlung sollte das Überstrecken und die volle Rotationsbewegung beim Lösen der Blockaden im Nacken vermieden werden.
Hypothese des somatosensorischen Inputs:
Die propriozeptorische Wahrnehmung, also das Verständnis von Haltung in Relation zu unserer Umwelt, wird durch mechanorezeptorische Nervenenden aus dem Nackenbereich, der tiefen Nackenmuskulatur und dem vestibulären System (dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr) zusammengetragen und an einem gemeinsamen Ort im Hirnstamm verarbeitet. Eine Irritation der Mechanorezeptoren im Zervikalbereich könnte verfälschte Reizübertragungen verursachen, welche laut dieser Theorie Schwindel hervorrufen können, wenn diese nicht mit den Informationen des Gleichgewichtorgans und der Augen übereinstimmen (3).
In der Vergangenheit gab es viele verschiedene Bezeichnungen für den zervikogenen Schwindel. Wie in dem ersten Artikel über Schwindel bereits erwähnt, gibt es im englischen mehrere Wörter für Schwindel, die den Unterschied zwischen den einzelnen Varianten verdeutlichen. Schwindel ist nicht gleich Schwindel, so unterschiedlich die Symptome, so unterschiedlich können auch die Ursachen sein. Schwindel kann durch Medikamente, Erkrankungen oder Reizungen des achten Gehirnnervs ausgelöst werden, sowie kardiovaskuläre, metabolische, neurologische und psychologische Ursachen haben.
Systematisch-ungerichteter Schwindel oder „Vertigo“ beschreibt die Illusion der Bewegung des Körpers, oder der Umwelt und hat häufig Erkrankungen des Innenohrs zur Ursache.
Ungerichteter Schwindel oder „Dizziness“ beschreibt die Benommenheit, die zum Beispiel mit Medikamenten, Schilddrüsenunterfunktion, oder Unterzuckerung einhergehen.
Das Erkennen von zu Grunde liegenden Erkrankungen des kardiovaskulären Systems, des Gehirns, oder des Innenohrs ist von immenser Bedeutung. Diese sollten vor Beginn einer Behandlung ausgeschlossen werden. Durch den Mangel an spezifischen Tests für zervikogenen Schwindel sollte die Diagnose in Form eines Ausschlussverfahrens erfolgen. Eine gute Zusammenarbeit mit Spezialisten in diesen Bereichen ist erstrebenswert (4). Grundsätzlich gilt, dass der Befund der Untersuchung über die mögliche Behandlung entscheidet. Bevor eine chiropraktorische Behandlung erfolgen kann, muss festgestellt werden, dass der Schwindel einer manualtherapeutsch behandelbaren Ursache unterliegt.
Aufgrund der Schwierigkeiten den Schwindel spezifisch zu benennen, die nötige Ausschlussdiagnostik, sowie die bis heute nicht komplett erforschten und verstandenen Ursachen für zervikogenen Schwindel, wird er manchmal noch immer als Mythos bezeichnet.
Durch das Fehlen hochwertiger Studien hinterfragen einige Angehörige verschiedener Gesundheitsberufe die Wirksamkeit manueller Therapien als Behandlungsansatz (5). Andere Wissenschaftler beobachten aber weiterhin den Nutzen einer Mischung aus Mobilisation und Manipulation der Halswirbelsäule in der Behandlung zervikogenen Schwindels (6).
(4) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5759906/
Manipulationstechniken / Justierungen der Halswirbelsäule können bei Schwindelsymptomatiken ein effektives Behandlungswerkzeug sein. Das Justieren ist bei einigen Schwindelpatienten allerdings kontraindiziert, da die Schwindel auslösende Bewegung die der Mobilisation gleicht die Symptome potenziell verschlimmern kann. In der unteren Tabelle sind die verschiedenen Stufen der Mobilisation umschrieben und verdeutlichen, dass das Justieren am physiologischen Limit der Bewegung, wenn kontraindiziert, nicht zwangsläufig notwendig ist. Die indizierte Intensität der Mobilisierung ist individuell und wird von Patient*in zu Patient*in angepasst.
Abschließend kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass Chiropraktoren in der Lage sind, einige Arten des Schwindels bei einer gezielten Untersuchung zu reproduzieren und erfolgreich zu behandeln. Die Therapie ist dabei an den Patienten entsprechend angepasst und beinhaltet nicht nur Justierungen, sondern auch Behandlungen der Muskeln, Faszien, Sehnen und Bänder.
Dennoch ist es wichtig, dass positive Beobachtungen, welche wir mit Schwindelsymptomatiken in der täglichen Praxis machen, weiter untermauert werden durch hochwertige klinische Studien. Nur so kann es gelingen, dass klinische Erfahrungen zukünftig auch weitläufiger anerkannt werden. Hierzu gibt es in der Forschung vielversprechende Ansätze, welche in den nächsten Jahren hoffentlich zu weiteren Erkenntnissen führen werden.
Geschrieben von Anik Wiederrich